1. Zukunft der Kinder- und Jugendmedizin in Deutschland
Der Beruf des Kinder- und Jugendarztes ist bei den Nachwuchsmedizinern weiterhin sehr beliebt, aber die Ärztestatistik der Bundesärztekammer der letzten Jahre zeigt seit 1996 einen deutlichen Zuwachs von über 2.000 Ärztinnen und Ärzten im Bereich der stationären Kinder- und Jugendmedizin und einen Rückgang im ambulanten Versorgungsbereich.
Junge Ärztinnen und Ärzte bevorzugen zunehmend die ärztliche Tätigkeit im Angestelltenverhältnis und wünschen sich Möglichkeiten zur Teilzeitarbeit. Dem müssen die politischen Rahmenbedingungen Rechnung tragen. Dazu gehört die finanzielle Förderung der Weiterbildung in der Praxis und eine entsprechender Vergütungsanreiz bei der Beschäftigung angestellter Ärztinnen und Ärzte in der Praxis.
Die im neuen Versorgungsstärkungsgesetz (GKV-VSG) festgelegte Regelung zum Aufkauf von Arztpraxen in angeblich überversorgten Gebieten, wird dem nachzuweisenden Bedarf an pädiatrischer Versorgung aufgrund einer völlig veralteten Bedarfsplanung in keiner Weise gerecht und kann zu gravierenden Versorgungsengpässen führen, wenn die Bedarfsplanung nicht dem tatsächlichen Bedarf angepasst wird.
2. Präventionsgesetz – eine Chance für Kinder?
Der BVKJ begrüßt den Ausbau des Kindervorsorgeprogramms mit der Schließung der Vorsorgelücke im Grundschulalter, die Einführung einer zweiten Jugendgesundheitsuntersuchung und das politische Bekenntnis zum Impfen, aber uns fehlen wichtige Vorsorgeinhalte zur primären Prävention.
In den pädiatrischen Praxen nehmen die Präventionsleistungen (Impfungen, Vorsorgeuntersuchungen) einen zunehmend großen Raum ein (über 30 % der Arbeitszeit). Hinzu kommen Kinder- und Jugendliche mit chronischen Erkrankungen und die wachsende Gruppe von Kindern und Jugendlichen mit soziogenen Gesundheits- und Entwicklungsstörungen. In der Bundesrepublik wachsen inzwischen ein Fünftel der Kinder im Vorschulalter ohne die Möglichkeit auf, durch ausreichende frühkindliche Entwicklungsanregung ihre intellektuellen und sozialen Kompetenzen ausreichend zu entfalten. Meist stammen diese Kinder aus häufig sozial benachteiligten, bildungsfernen Familien in prekären Lebensverhältnissen oder Familien mit bestimmtem Migrationshintergrund (sog. „anregungsarme Familien“). Diese Kinder verbringen ihre wichtigsten Jahre vor Bildschirmen, sie wachsen auf ohne Bücher, ohne Erwachsene, die sich ausreichend um sie kümmern, mit ihnen regelmäßig spielen, ihnen Geschichten erzählen oder ihnen vorlesen. Kinder, die unter solchen prekären Lebensbedingungen aufwachsen müssen, werden früh in ihrer Entwicklung beeinträchtigt und manche von ihnen nachhaltig traumatisiert. Sie fallen daher nicht selten bereits im Kindergarten mit deutlichen Entwicklungsstörungen auf. Solche Entwicklungsstörungen belasten die jungen Menschen bis in die Jugend und die Erwachsenenzeit hinein. Diese Kinder werden im Präventionsgesetz nur unzureichend erfasst, denn die primäre Prävention in den Lebenswelten und besonders auch im familiären Umfeld kommt ganz wesentlich zu kurz.
Kinder mit Störungen funktionaler Grundkompetenzen wie Wahrnehmungsfähigkeit, Sprachverständnis und damit verbundener Sprach- und Ausdrucksfähigkeit oder Störungen des Sozialverhaltens haben von vornherein schlechtere Chancen, einen Schulabschluss oder einen höherwertigen Schulabschluss zu erringen als Kinder aus sozial besser gestellten bzw. bildungsnahen Familien. Jährlich verlassen 40.000 bis 50.000, mithin ca. 8% unserer Kinder, die Schule ohne Abschluss und werden nur über zeit- und kostenintensive Integrationsprogramme mit mehr oder weniger Erfolg zu Schulabschlüssen bzw. in eine berufliche Ausbildung geleitet. Vernachlässigt, ohne Anerkennung, mit erheblichen Erziehungs- und Bildungsdefiziten, können diese jungen Menschen bei der Gestaltung und Weiterentwicklung unserer Gesellschaft nicht mitwirken, bleiben am Rande und haben keine Stimme. Die Gefahr ist groß, dass die prekären Lebensumstände und die chronische Abhängigkeit von staatlichen Transferleistungen an die nächste Generation „weitergegeben“ werden. Die Rate eines sozial abweichenden Verhaltens bzw. der Delinquenz dieser Jugendlichen ist relativ hoch. Soziogene frühkindliche Entwicklungsstörungen sind demnach in Abhängigkeit von ihrer Ausprägung geeignet, eine erhebliche Beeinträchtigung der späteren Sozialprognose zu determinieren. Der BVKJ fordert daher einen Ausbau früher pädagogischer Hilfen in den Lebenswelten der Kinder, denn die Medizin ist hier nicht der richtige Ansprechpartner. Diese Kinder brauchen keine Diagnosen und keine Heilmittel, sie brauchen frühe pädagogische Anregung und Bildung.
Kindertagesstätten und Schulen vermögen es derzeit nicht oder viel zu wenig, solche familiären häuslichen Förderdefizite (soziogene Entwicklungsdefizite) auszugleichen. Damit fehlen diesen Kindern die ihnen zustehenden Entwicklungschancen – obwohl sich die Bundesrepublik durch die Ratifizierung der UN-Kinderrechtskonvention verpflichtet hat, allen hier lebenden Kindern ein Recht auf Bildung zu gewähren.
3. Defizite in der medizinischen Versorgung von Flüchtlingskindern
Der BVKJ leitet seine Grundhaltung zur ärztlichen Versorgung von minderjährigen Flüchtlingen aus dem Artikel 24 [Gesundheitsvorsorge] der UN-Kinderrechtskonvention von 1989 her:
(1) Die Vertragsstaaten erkennen das Recht des Kindes auf das erreichbare Höchstmaß an Gesundheit an …. Die Vertragsstaaten bemühen sich sicherzustellen, dass keinem Kind das Recht auf Zugang zu derartigen Gesundheitsdiensten vorenthalten wird.
(2) Die Vertragsstaaten …. treffen insbesondere geeignete Maßnahmen, um
a)…
b) sicherzustellen, dass alle Kinder die notwendige ärztliche Hilfe und Gesundheitsfürsorge erhalten, wobei besonderer Nachdruck auf den Ausbau der gesundheitlichen Grundversorgung gelegt wird;
Demnach gilt, dass es keinerlei Einschränkung in der medizinischen Versorgung von minderjährigen Flüchtlingen geben darf. Dies gilt für akute oder chronische Erkrankungen ebenso wie für alle Maßnahmen der medizinischen Prävention. Temporäre Einschränkungen können sich allenfalls dann ergeben, wenn aufgrund eines plötzlichen massenhaften Auftretens von Leistungssuchenden die Versorgungskapazitäten (Einrichtungen, medizinisches Personal – Ärzte, MFA - und nicht-medizinisches Personal) überfordert sind. Dann erfolgt für den Zeitraum bis zur Entspannung der Situation die Versorgung nach Triagegesichtspunkten.
Die gesetzliche Grundlage für die ärztliche Behandlung ist das Asylbewerberleistungsgesetz.
Die Probleme und Erfahrungen mit der pädiatrischen Versorgung von minderjährigen Flüchtlingen sind in den einzelnen Bundesländern sehr unterschiedlich. Selbst in den großen Stadtstaaten variieren sie von Bezirk zu Bezirk. Der BVKJ hat deshalb seine einzelnen Landesverbände aufgefordert, jeweils einen Flüchtlingsbeauftragten zu benennen, der sich mit der zuständigen Landesregierung ins Benehmen setzt, wie die Versorgung der Kinder auch außerhalb von akuten Erkrankungen stattfinden soll … Er bittet die Obleute, mit den regionalen Gesundheitsämtern Kontakt aufzunehmen, um die Organisation der Versorgung der Flüchtlingskinder vor Ort abzustimmen und zu organisieren.
In verschiedenen Regionen bzw. einzelnen Stadtstaaten sind in Zusammenarbeit mit dem Gesundheitsamt (ÖGD), meist mit dem KJGD (Kinder- und Jugendgesundheitsdienst) strukturierte, standardisierte Vorgehensweisen zur medizinischen Erfassung und Beurteilung sowie der Impfungen der Kinder und Jugendlichen entwickelt worden. In den meisten Regionen und Städten haben sich niedergelassene Kinder- und Jugendärzte zur Verfügung gestellt, außerhalb ihrer Praxisdienstzeiten Impfungen – teilweise unter chaotischen Bedingungen - in Erstaufnahmeunterkünften und Asylbewerberheimen durchzuführen.
Neben den anfangs priorisierten Impfungen (s. Masernwelle in Berlin), die mit großem Engagement überwiegend noch in den Unterbringungseinrichtungen selbst durchgeführt werden konnten, haben sich aber auch andere Versorgungsbedarfe wie die Behandlung von Akuterkrankungen, aber auch die Dauerversorgung chronisch kranker Kinder und Jugendlicher als dringliche Versorgungsnotwendigkeit ergeben. Hierfür bieten die räumlich unterschiedlich ausgestatteten Unterbringungen keine adäquaten Behandlungsmöglichkeiten, so dass die akute und kontinuierliche ärztliche Betreuung von Flüchtlingskindern und –jugendlichen in der ambulanten Grundversorgung stattfinden muss.
Aus den anhand der bisherigen Erfahrungen dargestellten Problemen ergeben sich für den BVKJ folgende Forderungen:
- Patientenchipkarte. Sie befindet sich kontinuierlich beim Patienten. Vorschlag: Sie sollte bei der Erfassung der Familien gleich mit ausgestellt werden. Die Flüchtlingsfamilien sind dabei durch ein gesondertes Budget versichert, das hälftig aus öffentlichen Mitteln und von den Krankenkassen gespeist wird. Dieses Budget berührt nicht die MGV (morbiditätsbedingte Gesamtvergütung).
- Dolmetscher bzw. Organisierung von Flüchtlingen, die als Dolmetscher zur Verfügung stehen. Dies könnte in den Unterbringungseinrichtungen organisiert werden. Wesentliche Teile der Anamnese werden schon zu Beginn festgehalten, ggf. ergänzt und verbleiben beim Patienten, um Ressourcen zu sparen.
- Adäquate medizinische Versorgung auch für chronische Erkrankungen der zugereisten Kinder und Jugendlichen einschließlich Heil- und Hilfsmittelversorgung ohne bürokratische Hürden (extra Beantragung).
- Schulärztliche Betreuung durch Ausbau/Schaffung entsprechender Ressourcen im KJGD als dritte Säule des Gesundheitssystems.
- Sicherung einer Untersuchung (Seiteneinsteigeruntersuchung) für alle Kinder vor dem Besuch einer Gemeinschaftseinrichtung, insbesondere vor Schulbesuch. Regelmäßige schulärztliche Betreuung (im Sinne der betriebsmedizinischen Begleitung der Schülerinnen und Schüler). Nutzung des Settings zur subsidiären Daseinsfürsorge, auch zur Sicherung der Zuführung der Kinder und Jugendlichen zum primären Versorgungssystem.
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