In einer wiederholten Querschnittsstudie, die bevölkerungsbezogene Daten von Januar 2017 bis August 2022 untersuchte, lagen die Notaufnahmen von Patient*innen im Alter von 10 bis 17 Jahren während der Pandemie um 121% über der zu erwartenden Zahl und die Krankenhauseinweisungen um 54% darüber. Die Studie wurde im Canadian Medical Association Journal veröffentlicht.
„Wir hoffen, dass diese Studie das Bewusstsein für die Bedeutung von Essstörungen weiter schärft und Essstörungsprogramme mehr gefördert werden, damit wir Patient*innen angemessen versorgen und der steigenden Nachfrage nach Behandlungen gerecht werden können.“ Diese Hoffnung äußerte Hauptautorin Dr. Alene Toulany, MD, vom Hospital for Sick Children in Toronto gegenüber Medscape Medical News.
Die kanadischen Forscher*innen verglichen die Notaufnahmen und Krankenhauseinweisungen wegen Essstörungen vor der Pandemie (1. Januar 2017 bis 29. Februar 2020) und während der Pandemie (1. März 2020 bis 31. August 2022). Sie untersuchten dabei folgende vier Alterskategorien: Jugendliche (Alter 10 bis 17 Jahre), junge Erwachsene (Alter 18 bis 26 Jahre), Erwachsene (Alter 27 bis 40 Jahre) und ältere Erwachsene (Alter 41 bis 105 Jahre).
Bei Jugendlichen war die Steigerung in den Notaufnahmen und bei stationären Einweisungen am deutlichsten
Die Zahl der Besuche in der Notaufnahme wegen Essstörungen nahm während der Pandemie bei Jugendlichen, jungen Erwachsenen und älteren Erwachsenen zu, während die Zahl der Krankenhauseinweisungen nur bei Jugendlichen stieg und bei allen Erwachsenengruppen eher zurückging.
Bei Jugendlichen betrug die beobachtete Rate an Notaufnahmebesuchen während der 30 untersuchten Pandemiemonate 7,38 pro 100.000 Einwohner, verglichen mit 3,33 pro 100.000 vor der Pandemie. Die Zahl der Notaufnahmebesuche bei jungen Erwachsenen erreichte 2,79 pro 100.000, verglichen mit 2,46 pro 100.000 in der Zeit vor der Pandemie. Bei älteren Erwachsenen nahm die Rate der Notaufnahmen nicht so stark zu (vor der Pandemie 0,11 pro 100.000 und 0,14 pro 100.000 während der Pandemie.) Die Rate der Notaufnahmebesuche bei Erwachsenen blieb ungefähr gleich.
Die Rate der Krankenhauseinweisungen unter Jugendlichen stieg während der Pandemie um 54% über die erwartete Rate. Die beobachtete Rate an Krankenhauseinweisungen vor der Pandemie betrug 5,74 pro 100.000, gegenüber 8,82 pro 100.000 während der Pandemie. In den anderen Altersgruppen blieben die Krankenhauseinweisungen stabil oder gingen zurück.
Weltweites Phänomen
„Essstörungen haben während der COVID-19-Pandemie weltweit bei Kindern und Jugendlichen zugenommen“, erklärte Toulany. „Es gibt eine Reihe von Risikofaktoren, die zu diesem Anstieg während der Pandemie beitrugen, darunter Isolation, mehr Zeit in den sozialen Medien, eingeschränkter Zugang zur Gesundheitsversorgung (da viele […] Dienste aufgrund der Pandemie nicht verfügbar waren) sowie die Angst vor einer Ansteckung.“ „All dies könnte dazu beitragen, dass das Risiko steigt, eine Essstörung zu entwickeln, oder dass sich eine bestehende verschlimmert.“
Ähnliche Beobachtungen in den USA
Dr. Victor Fornari, MD, Direktor der Kinder- und Jugendpsychiatrie am Zucker Hillside Hospital/Northwell Health in Glen Oaks, New York, kommentierte die Ergebnisse für Medscape wie folgt: „Unsere Erfahrungen in den Vereinigten Staaten entsprechen denen, die in diesem kanadischen Artikel beschrieben werden.“ Das war eine Welle von Essstörungen, wie ich sie in meiner Karriere noch nicht erlebt hatte.“ Fornari nahm an der aktuellen Studie nicht teil.
„Über die Gründe dafür können wir spekulieren“, fuhr er fort. „Die Kinder wurden isoliert. Die Schule wurde geschlossen. Sie verbrachten mehr Zeit in sozialen Medien und im Internet. Ihre sportlichen Aktivitäten wurden eingeschränkt. Es herrschte Angst […].“ „Ich denke, wir haben einen dramatischen Anstieg von Essstörungen gesehen, genauso wie wir auch einen dramatischen Anstieg von Angstzuständen und Depressionen bei Jugendlichen beobachten konnten.“
Medien als ein möglicher Risikofaktor
Fornari nannte auch soziale Medien als einen wichtigen Faktor für Essstörungen, insbesondere bei gefährdeten Teenagern. „Viele dieser gefährdeten Kinder schauen sich Bilder von Menschen an, die sehr dünn sind, sie vergleichen sich, fühlen sich unzulänglich und sind traurig. Soziale Medien sind einer der Gründe, warum die Rate psychopathologischer Erkrankungen unter Teenagern im letzten Jahrzehnt sprunghaft angestiegen ist.“ Den Zugang zu sozialen Medien auf das Alter von 16 Jahren zu verschieben, weil die jüngeren Kinder beeindruckbar und verletzlich sind, wäre seiner Ansicht nach gut, aber schwer in der Praxis umzusetzen.
Pandemie fungiert als Verstärker für Essstörungen
Professor Dr. Simon Sherry, PhD, Experte für Psychologie und Neurowissenschaften an der Dalhousie University in Halifax, Nova Scotia, kommentierte die Studie folgendermaßen „[Die Ergebnisse] decken sich auch mit meiner eigenen Erfahrung als Praktiker.“ Sherry war nicht an der Forschung beteiligt.
Die Pandemie sei für Menschen mit Essstörungen aus vielen Gründen schwierig gewesen, verdeutlichte Sherry. „Es gab eine massive Störung oder einen ‚Verlust der Normalität‘ rund um das Essen. Restaurants wurden geschlossen, der Lebensmitteleinkauf war erschwert, es kam zu Nahrungsmittelknappheit, es kam zu Hamsterkäufen. Das bedeutete, dass das Essen für uns alle schwierig war, vor allem aber für diejenigen, die starr und kontrollierend beim Verzehr von Lebensmitteln vorgingen. In dieser COVID-Ära braucht man Flexibilität und Akzeptanz beim Essen, aber wenn man nur eine begrenzte Auswahl an Lebensmitteln […] bevorzugt, hat die Pandemie dies zweifellos noch viel schlimmer gemacht.“
Bestimmte Formen von Essstörungen würden durch die Pandemie begünstig, bemerkte Sherry. „Essattacken werden zum Beispiel oft durch psychologische, soziale und umweltbedingte Ereignisse ausgelöst“, und diese Auslöser gab es zu Beginn der Pandemie reichlich. Zu den Auslösern zählen Langeweile, Angst, Depressionen, Stress, Einsamkeit, Ausgangssperren und Isolation. „COVID-19-bedingter Stress war und ist ein sehr fruchtbarer Boden für die Entwicklung von emotionalem Überessen, Essattacken oder Flucht zum Essen, um damit fertig zu werden. Essstörungen neigen dazu, in Stille, Isolation und Inaktivität zu ‚gedeihen‘, und genau das haben wir während der Lockdown-Phase der Pandemie erlebt“, vermutete er.
Quellen: Medscape, Canadian Medical Association Journal