Lesen und schreiben zu können, ist eine wichtige Grundlage für die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben – und eine wesentliche Voraussetzung für Bildung. Nicht ohne Grund bewirbt das Bundesministerium für Bildung und Forschung seine Alphabetisierungskurse mit dem Slogan „Mein Schlüssel zur Welt“. Der Erwerb von Buchstabenwissen, also der Kenntnis, welcher Buchstabe welchen Laut repräsentiert, ist in vielen Kindertagesstätten nicht Teil des Vorschul-Curriculums, sodass zahlreiche Kinder, wenn sie in die erste Klasse kommen, nur wenig oder gar kein Wissen über Buchstaben besitzen. Häufig fehlt diesen Kindern jegliche Vertrautheit mit Buchstabenmaterial. Der Schriftspracherwerb muss also ganz von vorn beginnen.
„Wer jedoch schon vor Schuleintritt Vorläuferfertigkeiten aufbaut, profitiert langfristig davon“, sagt Thomas Lachmann, Professor für Kognitive und Entwicklungspsychologie an der TU Kaiserslautern. „Unsere Studie zeigt, dass auch ohne Anleitung, bei Nutzung bestimmter Materialien und Techniken, die Vertrautheit mit Buchstaben allein durch individuelles Vorlesen gefördert werden kann. Kinder, denen im Vorschulalter regelmäßig individuell vorgelesen wird, haben deshalb von Beginn an einen Vorteil.“
Zusammen mit Patricia Wesseling und Corinna Christmann untersuchte Lachmann den Einfluss von zwei Methoden auf die Entwicklung der Sprachfähigkeiten und der Buchstabenvertrautheit von Vorschulkindern. In einer Kita-Gruppe richtete das Team eine Leihbücherei ein (Methode 1), aus der sich jedes Kind einmal pro Woche ein Buch selbst aussuchen und mit nach Hause nehmen konnte. Die Eltern wurden gebeten, die Bücher zuhause gemeinsam mit ihren Kindern zu lesen. Die Erzieherinnen einer zweiten, vergleichbaren Kita erhielten ein intensives professionelles Training in der Technik des Dialogischen Vorlesens (Methode 2), bei dem das Kind zur Interaktion ermutigt wird: der Vorleser oder die Vorleserin passt sich an das Sprachniveau des Kindes an, ermuntert es, die Geschichte mit zu erzählen und gibt dem Kind gezielt Rückmeldungen. Das Kind soll nicht nur passiv zuhören, sondern lernen, selbst zum Erzähler zu werden. In einer dritten Kita-Gruppe setzte das Forscherteam sowohl die Leihbücherei als auch das Interaktionstraining für die Erzieherinnen um. Eine vierte Gruppe diente als Kontrollgruppe. Hier wurde nichts verändert.
Gemeinsames Lesen fördert Vertrautheit mit Buchstaben
Aus den vier Kindertagesstätten nahmen insgesamt 69 Kinder zwischen drei und fünf Jahren an der Untersuchung teil. Das Forscherteam bestimmte mit einem standardisierten Test für alle Kinder deren aktiven Wortschatz vor und nach den jeweiligen Maßnahmen im Abstand von sechs Monaten. Um darüber hinaus die Vertrautheit mit Buchstaben bestimmen zu können, entwickelte das Team einen eigenen Test, in dem die Kinder Buchstaben in einer Reihe von Pseudobuchstaben finden mussten. Die Ergebnisse wurden dann mit statistischen Methoden analysiert. Nach sechs Monaten zeigte sich, dass sich der Wortschatz der Kinder in allen drei Gruppen mit Vorlese-Maßnahmen im Vergleich zur Kontrollgruppe deutlich stärker erweitert hatte. Damit konnten Ergebnisse zahlreicher früherer Studien bestätigt werden, die positive Effekte des Vorlesens auf die Sprachentwicklung zeigen. Zudem waren die Kinder der drei Interventionsgruppen im Vergleich zur Kontrollgruppe auch deutlich vertrauter mit Buchstaben. Kinder, mit denen die Eltern oder Erzieherinnen gemeinsam gelesen hatten, konnten Buchstaben besser von buchstabenähnlichen Zeichen unterscheiden. „Ohne die Buchstaben unbedingt nennen zu können, entwickeln die Kinder eine Bewusstheit für die Form und die Rolle von Buchstaben“, erklärt Patricia Wesseling. „Damit konnte zum ersten Mal gezeigt werden, dass regelmäßiges individuelles Vorlesen die Entwicklung von Vorläuferfertigkeiten für den Schriftspracherwerb fördert.“
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(Dr. Anne Klostermann, Presse- und Öffentlichkeitsarbeit, Deutsche Gesellschaft für Psychologie - DGPs)
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