Kinder, Jugendliche und Familien genießen in jedem Bundestagswahlkampf die besondere Aufmerksamkeit aller Parteien. Angeblich steht ihre Förderung ganz oben auf der Prioritätenliste. Das werden wir auch in den kommenden Wochen und Monaten bis zur Wahl wieder erleben. Leider stimmt die politische Wirklichkeit mit der Wahlkampfrhetorik oft nicht überein. Dabei sollte der Kindermangel in Deutschland doch dafür sorgen, dass wir unseren wenigen Kindern und Jugendlichen eine besonders gute und umfangreiche Förderung bieten. Denn unsere Gesellschaft kann es sich nicht leisten, dass die junge Generation durch Sucht, Übergewicht, psychischen Stress oder vermeidbare Krankheiten – um nur einiges zu nennen – nicht fit genug ist, die Zukunft zu meistern. Genau diese Gefahr aber ist nicht mehr von der Hand zu weisen. Kinder- und Jugendärzte fordern deshalb alle Parteien auf, ihre Programme für die kommende Legislaturperiode an den folgenden, unabweisbaren Notwendigkeiten auszurichten:
- Ausbau der Ganztagsbetreuung im vorschulischen und schulischen Bereich, insbesondere in Wohnbezirken mit besonderem Bedarf an sozialkompensatorischen Maßnahmen
- Stärkung von Erziehungs- und Bildungsaufgaben im vorschulischen Bereich
- Beitragsfreie Mitversicherung von Kindern und Jugendlichen in der GKV und keine Zuzahlungen bis zum vollendeten 18. Lebensjahr
- Übernahme der Kosten für alle von der STIKO empfohlenen Impfungen durch die GKV durch entsprechende Änderung im SGB V (§ 20)
- Anspruch auf Untersuchungen zur Früherkennung von Krankheiten und Entwicklungsstörungen für Kinder und Jugendliche bis zum 18. Lebensjahr durch entsprechende Änderung im SGB V (§ 26)
- Übernahme der Kosten für nicht-verschreibungspflichtige Medikamente (OTC-Präparate) mit nachgewiesener Wirksamkeit bis zum vollendeten 18. Lebensjahr durch entsprechende Änderung im SGB V (§ 34)
- Sonderstellung der haus- und fachärztlichen Versorgung durch Kinder- und Jugendärzte präzisieren durch entsprechende Änderung im SGB V (§ 73) (Neue Schwerpunkte und Zusatzweiterbildungen in der Kinder- und Jugendmedizin, Versorgung von Kindern und Jugendlichen verlangt eine entsprechende Qualifikation)
- Beibehaltung und Stärkung des jugendmedizinischen Dienstes im ÖGD (Reihenuntersuchungen, aufsuchende Gesundheitsfürsorge, gesundheitliche Beratung und Betreuung von Kindertageseinrichtungen und Schulen)
- Wirksame Bekämpfung von legalen und illegalen Drogen in allen öffentlichen Bereichen (z.B. Verbot von Tabak- und Alkoholkonsum in den Schulen, keine Tolerierung von Cannabis, intensivierte Aufklärungsmaßnahmen usw.)
- Sicherung der Arzneimittelversorgung von Kindern und Jugendlichen durch entsprechende Bestimmungen im AMG (Off-Label-Use) durch Änderungen beim Zulassungsrecht und entsprechende Anreize für die forschende Pharmaindustrie
- Berücksichtigung von Kindern und Jugendlichen im Präventionsgesetz, dabei insbesondere Unterstützung zielgruppenspezifischer Präventionsansätze (bei Kindern und Familien in relativer Armut und Migranten)
- Erhalt einer qualifizierten Versorgung von Kindern und Jugendlichen durch Sicherung von Kinderkliniken und einer ambulanten Kinder- und Jugendmedizin (kein Primärarztmodell nach angelsächsischer Prägung) sowie Sicherung der Weiterbildung in Klinik, Praxis und ÖGD (durch entsprechende Förderung wie bei der Allgemeinmedizin)
- Mitaufnahme einer Bezugsperson bei stationärer Behandlung von Kindern durch verbindliche Kriterien (Alter, Indikationsstellung durch den Arzt – Vorschläge von GKinD) und zusätzliche Finanzierung sichern (Krankenkassen versuchen z.Z., diese Bestimmung zu unterlaufen)
Kinderfrüherkennungsprogramm endlich neuen Erkenntnissen anpassen
Für Kinder sind von der Geburt bis zum 18. Lebensjahr bisher 10 Vorsorgeuntersuchungen im gelben Vorsorgeheft vorgesehen: U1 bis U9 und außerhalb des Heftes auf einem gesonderten Dokumentationsbogen die J1. Da das gelbe Vorsorgeheft seit seiner Entstehung in den Siebziger Jahren kaum überarbeitet wurde, hinkt es den medizinischen Notwendigkeiten hinterher. Seh- und Hörstörungen werden dadurch beispielsweise oft zu spät erkannt, frühe Verhaltens- oder Bindungsstörungen werden kaum erfasst. Die derzeit von den gesetzlichen Krankenkassen bezahlten üblichen Untersuchungen werden darüber hinaus den zunehmenden Entwicklungsstörungen im Bereich der Sprache und der schulischen Fertigkeiten nicht mehr gerecht. Auch psychische Störungen fallen größtenteils durch das Raster der Untersuchungen.
Experten haben Vorschläge für eine zeitgemäße Erneuerung des Kinderfrüherkennungsprogramm erarbeitet. Diese neuen Untersuchungen sollen u.a. sicherstellen, dass Sprach-, Gewichts- oder Lernprobleme, Störungen der Sozialisationen und gesundheitliche Gefahren eines inadäquaten Medienkonsums frühzeitig erkannt und behandelt werden können. Insgesamt soll einer inzwischen eingetretenen Veränderung der gesundheitlichen Gesamtsituation im Kindes- und Jugendalter Rechnung getragen werden.
Die Erneuerung des Standardhefts in den Gremien der Selbstverwaltung wird jedoch noch längere Zeit in Anspruch nehmen.
Der BVKJ geht deshalb eigene Wege und bietet ein ergänzendes Früherkennungsprogramm im Alter von 3 (U7a), 7-8 (U10), 9-10 (U11) und 16-18 (J2) Jahren an. Privatpatienten erhalten diese Leistungen teilweise von ihren Kassen erstattet, da ihnen bis zum vollendeten 14. Lebensjahr jährliche Vorsorgen zustehen, gesetzlich Krankenversicherte müssen diese wichtigen Untersuchungen zunächst aus eigener Tasche bezahlen und auf Kulanz ihrer Kassen hoffen. Im Rahmen von Hausarztmodellen bieten Kassen zwar jährliche Vorsorgen für Erwachsene zusätzlich an, deren Inhalt in keiner Weise evaluiert ist, Kinder- und Jugendliche, bei denen die Prävention sicher von höherem Nutzen ist als bei Erwachsenen, bleiben bei den meisten Kassen bislang außen vor.
Lediglich die Deutsche BKK startet im Herbst zusammen mit dem BVKJ und dem Berufsverband der Augenärzte eine integrierte Versorgung nach § 140 zum Ausbau des Kinderfrüherkennungsprogramms.
Weitere Informationen zum 35. Kinder- und Jugendärztetag in Berlin (17. bis 19. Juni 2005) mit dem zentralen Thema "Impfempfehlungen im Wandel" erhalten Sie im Pressezentrum.