Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben äthiopische Kinder und Jugendliche, deren Grauer Star im Hawassa Referral Hospital chirurgisch erfolgreich behandelt wurde, in den ersten Wochen und Monaten nach der OP begleitet. Beteiligt an der Current Biology-Studie waren die Universität Ulm, die Hebrew University of Jerusalem und das Padeh Medical Center in Tiberias (Israel).
In Entwicklungsländern ist der Graue Star eine Hauptursache für Erblindung. Die Augenkrankheit ist teils angeboren, wird aber auch durch Unterernährung und schlechte Lebensbedingungen im Kindesalter ausgelöst. Die Krankheit, auch Katarakt genannt, lässt sich operativ gut behandeln, indem die krankhaft getrübte Linse durch eine Kunstlinse ersetzt wird. Doch solche Augen-Operationen sind für die meisten Familien der Betroffenen unerschwinglich. In Äthiopien engagieren sich seit 2014 israelische Ärztinnen und Ärzte vom Padeh Medical Center in Tiberias, damit junge Menschen mit Grauem Star nach vielen Jahren der Blindheit endlich ihr Augenlicht (zurück)erhalten. Ein deutsch-israelisches Gemeinschaftsprojekt untersucht seit 2016 wie die Kinder, Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die im Hawassa Referral Hospital operativ behandelt wurden, mit dem wiederhergestellten neuen Sinnesorgan zurechtkommen. Das wissenschaftliche Begleitprojekt der Hebrew University of Jerusalem und der Universität Ulm erkundet, wie die frisch Operierten mit der Zeit wieder sehen lernen. „Wir wollen herausfinden, wann und wie es dem Gehirn gelingt, die visuellen Eindrücke mit den Informationen der anderen Sinne sinnvoll zu verknüpfen“, erklärt Professor Marc Ernst, Leiter der Abteilung für Angewandte Kognitionspsychologie an der Universität Ulm, der federführend an der Studie beteiligt war. Forschende aus der Neurobiologie, der Kognitionspsychologie, der Augenheilkunde und der medizinischen Bildgebung haben dafür insbesondere analysiert, wie das Gehirn Seh- und Tastsinn miteinander in Einklang bringt.
Wie ist es für einen Menschen, der von Kindesbeinen an blind ist, plötzlich sehen zu können?
Zwar lässt sich das Augenlicht chirurgisch recht schnell wieder herstellen, doch bis aus den visuellen Sinnesreizen kohärente Bilder von der Welt entstehen, passiert eine Menge im Kopf. Was genau, das sollte die in Äthiopien durchgeführte Studie klären helfen.
Dr. Irene Senna, Wissenschaftlerin in Professor Ernsts Abteilung, war seit 2016 bereits sieben Mal für jeweils zwei bis drei Wochen für diese Forschungsarbeit vor Ort in Hawassa und hat an der Durchführung der Untersuchungen persönlich mitgewirkt. Die italienische Kognitionspsychologin war anfangs überrascht über die Reaktion der frisch operierten Kinder und jungen Erwachsenen. Senna hatte vor allem große Freude und eine enorme Aufregung erwartet. Aber die Realität sah ganz anders aus, wie sich herausstellte: Die häufigste Reaktion der Betroffenen auf die chirurgische Wiederherstellung ihrer Sehkraft war Überwältigung. „Das helle Licht der Sonne ist für viele wie ein Schock. Außerdem müssen die frisch Operierten erst lernen, den visuellen Input richtig zu interpretieren und die neuen Signale ins richtige Verhältnis zu setzen mit der Welt, wie sie sie kennen“, sagt Senna, die wie Elena Andres von der Hebrew University zu den Erstautorinnen der Studie gehört.
Wie lange braucht das Gehirn, bis es gelernt hat, die visuellen Informationen „weltgerecht“ zu verarbeiten? Ist das Gehirn bei älteren Kindern und jungen Erwachsenen überhaupt noch dazu in der Lage?
Um diese Fragen zu beantworten, hat das deutsch-israelische Forschungsteam am Hawassa Referral Hospital sowie in Blindenschulen in Shashamane und Sebeta 30 Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene im Alter zwischen 8 und 19 Jahren untersucht. Zu unterschiedlichen Zeitpunkten nach der Operation wurde erfasst, ob und in welchem Ausmaß sich die Probandinnen und Probanden auf den neu gewonnenen Sehsinn verlassen. Sie mussten dafür die Größe von Objekten schätzen, die sie gleichzeitig mit den Händen betasten konnten. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Studien bekamen zusätzlich einerseits realistisch große Abbildungen gezeigt, andererseits vergrößerte beziehungsweise verkleinerte Abbildungen der Objekte, um eine visuelle Verzerrung zu erzeugen.
Das Ergebnis: Innerhalb von Wochen bis Monaten nach der OP hat sich bei der Kombination von Seh- und Tastinformation ein multisensorisches Gewichtungsverhalten ergeben, das dem von normalsehenden Kontrollpersonen ähnelte. Mit der Zeit gewinnt der Sehsinn also mehr und mehr an Bedeutung, insbesondere wenn dieser in seinem Verhältnis zur Welt – also in Kombination mit anderen Sinneserfahrungen – entsprechend trainiert wird. „Wie gut die multisensorische Integration gelingt, hängt dabei nicht nur vom Alter ab, sondern sie setzt auch intensive Erfahrungen mit der Welt voraus, bei der auch alle anderen Sinne zum Einsatz kommen“, so Professor Ehud Zohary von der Hebrew University of Jerusalem, der die Studie gemeinsam mit Prof. Ernst koordiniert hat.
Die Ergebnisse der wissenschaftlichen Arbeit, die im Fachjournal „Current Biology“ veröffentlicht wurden, sind also nicht nur ein deutlicher Beleg für die Plastizität des Gehirns. Sie lassen auch schlussfolgern, wie wichtig entsprechende Trainings- und Rehabilitationsmaßnahmen für die Verbesserung der therapeutischen Erfolgsaussichten sind. Welche Übungen das sein könnten, und wie eine solche Reha für Menschen mit chirurgisch (wieder)hergestellter Sehkraft aussehen könnte, dazu ist bereits eine Folgestudie in Arbeit. Gefördert wurde das Projekt von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) als Deutsch-Israelische Projektkooperation (DIP), die von Ehud Zohary und Marc Ernst gemeinsam beantragt wurde. Zu den beteiligten Einrichtungen gehören neben der Universität Ulm und der Hebrew University of Jerusalem das Padeh Medical Center in Tiberias (Israel), das die Augenoperationen durchgeführt hat.
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(Andrea Weber-Tuckermann, Presse- und Öffentlichkeitsarbeit, Universität Ulm)
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