Kinder- & Jugendärzte im Netz

Ihre Haus- und Fachärzte von der Geburt bis zum vollendeten 18. Lebensjahr

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Lernen so früh wie möglich?

Auf der Pressekonferenz anlässlich des 9. Forums für Gesundheits- und Sozialpolitik stellt der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte e.V. am 14. November 2007 einen Paradigmenwechsel in der Kleinkinderbetreuung vor...Auf der Pressekonferenz anlässlich des 9. Forums für Gesundheits- und Sozialpolitik stellt der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte e.V. am 14. November 2007 einen Paradigmenwechsel in der Kleinkinderbetreuung vor...

Statement des BVKJ-Präsidenten Dr. med. Wolfram Hartmann
Der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ e.V.) unterstützt nachdrücklich die Forderung von Bundesfamilienministerin Dr. Ursula von der Leyen nach einem Ausbau des Angebots an qualifizierten Betreuungsplätzen auch für Kinder vor vollendetem 3. Lebensjahr. Als Kinder- und Jugendärzte sind wir nicht der Meinung, dass eine frühe Betreuung von Kleinkindern außerhalb des familiären Umfeldes unweigerlich zu seelischen Schäden und frühen Bindungsstörungen bei Kleinkindern führt, verkennen dabei aber nicht den hohen Stellenwert einer stabilen Bindung an Mutter und Vater für ein Kind.

Personell und räumlich gut ausgestattete Kitas sind aber eine große, teilweise sogar die einzige Chance für junge Kinder, vorschulisch eine optimale Entwicklungsförderung zu erhalten. Wir wissen heute, dass nicht ausreichend entwickelte Basiskompetenzen, vor allem aber eine nicht ausreichende Sprachentwicklung, bei dem Großteil der betroffenen Kinder später zu Schulabbrüchen bzw. niederrangigen Schulabschlüssen führt. Die soziale Prognose ist dadurch massiv beeinträchtigt. Wir sehen in unseren Praxen täglichKinder, denen in der Familie keine adäquate Förderung zuteil wird, die vernachlässigt und misshandelt werden. Konservative Politikerinnen und Politiker müssen endlich erkennen, dass ihr Bild von der heilen Familienwelt für ca. 25 % aller Kinder in Deutschland nicht mehr zutrifft. Jedes 6. Kind lebt in Armut und ist dadurch in seinen Lebenschancen massiv benachteiligt. Diese Kinder brauchen die Hilfe des Staates, wie es auch in der UN-Kinderrechtskonvention von 1990, von Deutschland 1992 ratifiziert, vereinbart wurde:

Artikel 3 [Wohl des Kindes]

  • Bei allen Maßnahmen, die Kinder betreffen, gleichviel ob sie von öffentlichen oder privaten Einrichtungen der sozialen Fürsorge, Gerichten, Verwaltungsbehörden oder Gesetzgebungsorganen getroffen werden, ist das Wohl des Kindes ein Gesichtspunkt, der vorrangig zu berücksichtigen ist.

Artikel 2O [Von der Familie getrennt lebende Kinder; Pflegefamilie; Adoption]

  • Ein Kind, das vorübergehend oder dauernd aus seiner familiären Umgebung herausgelöst wird oder dem der Verbleib in dieser Umgebung im eigenen Interesse nicht gestattet werden kann, hat Anspruch auf den besonderen Schutz und Beistand des Staates.
  • Die Vertragsstaaten stellen nach Maßgabe ihres innerstaatlichen Rechts andere Formen der Betreuung eines solchen Kindes sicher.

Als andere Form der Betreuung kommt unter anderem die Aufnahme in eine Pflegefamilie, die Kafala nach islamischem Recht, die Adoption oder, falls erforderlich, die Unterbringung in einer geeigneten Kinderbetreuungseinrichtung in Betracht. Bei der Wahl zwischen diesen Lösungen sind die erwünschte Kontinuität in der Erziehung des Kindes sowie die ethnische, religiöse, kulturelle und sprachliche Herkunft des Kindes gebührend zu berücksichtigen.

Artikel29 [Bildungsziele; Bildungseinrichtungen]
Die Vertragsstaaten stimmen darin überein, dass die Bildung des Kindes. darauf gerichtet sein muss,
a. die Persönlichkeit, die Begabung und die geistigen und körperlichen Fähigkeiten des Kindes voll zur Entfaltung zu bringen;
Diese benachteiligten Kinder brauchen adäquate frühe Betreuung in Kitas ganz besonders, damit ihnen zu einem guten Start ins Leben verholfen werden kann. Aber auch für Kinder, die in geordneten und sicheren Verhältnissen aufwachsen, kann eine Kita gut sein, wenn sie ihre kognitiven und kreativen Fähigkeiten fördert und – für Einzelkinder besonders wichtig – soziale Kompetenzen schult.

Dass durch den frühen Kita-Start die Eltern-Kind-Beziehung dauerhaft leidet, halten wir für wissenschaftlich nicht belegt. In der Eltern-Kind-Interaktion kommt es nicht in erster Linie auf die Quantität der Beziehung sondern auf die Qualität an. Zwei Stunden mit einer ausgeglichenen Mutter oder Vater sind für ein Kind wertvoller als 12 Stunden mit einem unausgeglichenen frustrierten Elternteil. Genau dies erleben wir aber häufig an unseren Patienteneltern: durch die schlechte Betreuungssituation in Deutschland stehen sie ständig unter Druck, sie haben keine Planungssicherheit für ihren Alltag und geben manchmal auch entnervt von den großen Schwierigkeiten ihren Beruf auf und bleiben resigniert zu Hause. Darunter leidet auch das Familienleben.

Aus diesen Gründen setzen wir uns für einen Ausbau bestens ausgestatteter und bezahlbarer Kindertagesstätten für unter Dreijährige ein. Die Erzieherinnen und Erzieher in diesen Einrichtungen müssen qualifiziert und mit Bindungsstörungen, den Phasen der frühen Entwicklung und den besonderen Bedürfnissen von Kleinkindern bestens vertraut sein. Diese Einrichtungen haben den Auftrag, die Kinder sowohl in ihrer geistigen und seelischen als auch in ihrer sprachlichen und motorischen Entwicklung zu fördern, ihr Sozialverhalten zu entwickeln und ihnen Selbstsicherheit zu vermitteln. Dazu bedarf es einer sehr guten Relation von Erziehern und Kindern. Ideal wäre die Relation 1:3!

Selbstverständlich muss es Eltern aber auch weiterhin freistehen, sich für verschiedene Lebensformen zu entscheiden. Dabei sollten Mütter, die bewusst ihre Kinder zu Hause betreuen und fördern, einen eigenen Rentenanspruch erwerben und steuerlich so entlastet werden, dass die Entscheidung für ein Kind nicht mit einem Armutsrisiko behaftet ist. Es muss aber hinterfragt werden, ob die Zahlung eines Erziehungsgeldes besonders bei sozialen Randgruppen nicht dazu führt, dass dem Kind die Betreuung und Förderung in einer guten Kindertageseinrichtung vorenthalten und die Mittel nicht zum Wohle des Kindes verwendet werden. Natürlich müssen die finanziellen Mittel für sozial schwache Familien mit Kindern so bemessen sein, dass Kinder davon gesund ernährt, ausreichend gekleidet und gefördert werden können. Uns erscheinen aber kostenlose gesunde Mahlzeiten in allen Betreuungseinrichtungen und freier Zugang zu Bildungseinrichtungen, Sport- und Musikangeboten mehr im Sinne des Kindeswohls zu sein als eine ständige Erhöhung finanzieller Zuwendungen an die Familien.

Wir unterstützen ebenso die Forderung der Politik, das letzte Jahr vor der Einschulung zum Pflichtjahr zu machen. Dazu müssen die Qualität der Betreuungseinrichtungen stimmen und die Kinder optimal gefördert werden.

Der Staat muss das Kindeswohl garantieren, wenn Eltern und Erzieher versagen!