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Modellrechnung: Extremes Übergewicht im Kindesalter kann die Lebenserwartung halbieren

Neue Forschungsergebnisse, die auf dem Europäischen Kongress für Fettleibigkeit (ECO) in Venedig, Italien (12.-15. Mai), vorgestellt wurden, haben zum ersten Mal die Auswirkungen verschiedener Aspekte von Fettleibigkeit bei Kindern auf die langfristige Gesundheit und Lebenserwartung berechnet.

© Grischa Georgiew - Fotolia.com

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Die von Dr. Urs Wiedemann von Stradoo (Life-Science-Beratungsunternehmen in München) und Kolleg*innen an Universitäten und Krankenhäusern in Großbritannien, den Niederlanden, Frankreich, Schweden, Spanien, den USA und Deutschland vorgestellte Modelrechnung, ergab dass der Beginn, der Schweregrad und Dauer von starkem Übergewicht Einfluss auf die Lebenserwartung hat.

Entwicklung von extremen Übergewicht in einem sehr jungen Alter hat einen besonders starken Effekt

Beispielsweise habe ein Kind, das im Alter von vier Jahren unter schwerer Fettleibigkeit leidet und anschließend nicht abnimmt, eine Lebenserwartung von 39 Jahren – etwa die Hälfte der durchschnittlichen Lebenserwartung, so die Forscher*innen.

Dr. Wiedemann kommentierte: „Obwohl allgemein bekannt ist, dass starkes Übergewicht bei Kindern das Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen und damit verbundene Erkrankungen wie Typ-2-Diabetes (T2D) erhöht und die Lebenserwartung verringern kann, gibt es nur lückenhafte Belege für das Ausmaß der Auswirkungen. […] Ein besseres Verständnis des genauen Ausmaßes der Langzeitfolgen und der Faktoren, die sie beeinflussen, könnte dazu beitragen, Präventionsstrategien und Behandlungsansätze zu prägen sowie die Gesundheit zu verbessern und das Leben zu verlängern.“

Um mehr zu erfahren, erstellten die Forscher*innen ein Modell für früh einsetzendes starkes Übergewicht (Adipositas), mit dem sie die Auswirkungen von Adipositas bei Kindern auf Herz-Kreislauf-Erkrankungen und damit verbundene Erkrankungen wie Typ-2-Diabetes (TD2) sowie die Lebenserwartung abschätzen konnten.

Vier Schlüsselvariablen wurden einbezogen: Alter bei Beginn des starken Übergewichts, Dauer der Adipositas, irreversible Risikoakkumulation (ein Maß für irreversible Risiken von Fettleibigkeit – gesundheitliche Auswirkungen, die auch nach Gewichtsverlust bestehen bleiben) und Schweregrad der Adipositas.

Der Schweregrad des Übergewichts basierte auf dem BMI-Z-Score. BMI-Z-Scores sind ein weit verbreitetes Maß für das Gewicht im Kindes- und Jugendalter und geben an, wie stark der BMI (Body Mass Index) einer Person vom normalen BMI für ihr Alter und Geschlecht abweicht, wobei höhere Werte ein höheres Gewicht bedeuten.
Beispielsweise hat ein 4-jähriger Junge mit einer durchschnittlichen Körpergröße von 103 cm und einem „normalen“ Gewicht von etwa 16,5 kg einen BMI Z-Score von 0. Ein gleichaltriger und gleichgroßer Junge mit einem Gewicht von 19,5 kg hat einen BMI Z-Score von 2, was gerade im Adipositasbereich liegt, und Altersgenosse der gleichen Größe, der 22,7 kg wiegt, hat einen BMI Z-Score von 3,5, was auf schwere Adipositas hinweist.

Die Daten stammen aus 50 bestehenden klinischen Studien zu Adipositas und damit verbundenen Begleiterkrankungen wie Typ-2-Diabetes, Herz-Kreislauf-Probleme und Fettleber. An den Studien nahmen mehr als 10 Millionen Teilnehmer*innen aus Ländern auf der ganzen Welt teil, davon etwa 2,7 Millionen im Alter zwischen 2 und 29 Jahren.

Frühes starkes Übergewicht erhöht Krankheitsrisiken

Das Modell zeigt, dass ein früherer Beginn und eine schwerere Adipositas die Wahrscheinlichkeit erhöhen, damit verbundene Komorbiditäten zu entwickeln.
Beispielsweise besteht bei einer Person mit einem BMI Z-Score von 3,5 (was auf schwere Adipositas hinweist) im Alter von 4 Jahren, die nicht weiter abnimmt, eine Wahrscheinlichkeit von 27%, bis zum Alter von 25 Jahren an Typ-2-Diabetes zu erkranken, und eine Wahrscheinlichkeit von 45%, im Alter von 35 Jahren Typ-2-Diabetes zu entwickeln.

Im Gegensatz dazu besteht bei einer Person mit einem BMI Z-Score von 2 im Alter von 4 Jahren ein Risiko von 6,5 % im Alter von 25 Jahren Typ-2-Diabetes zu bekommen und ein Risiko von 22% im Alter von 35 Jahren.
Das Modell der früh einsetzenden Adipositas zeigt auch, dass ein höherer BMI Z-Score in einem frühen Alter zu einer geringeren Lebenserwartung führt.

Beispielsweise verringert ein BMI Z-Score von 2 im Alter von 4 Jahren ohne anschließende Gewichtsreduktion die durchschnittliche Lebenserwartung um etwa 15 Jahre – von ca. 80 auf 65 Jahre. Die Lebenserwartung verringert sich weiter auf 50 Jahre bei einem BMI Z-Score von 2,5 und auf 39 Jahre bei einem BMI Z-Score von 3,5. Im Gegensatz dazu ergibt ein BMI Z-Score von 3,5 im Alter von 12 Jahren ohne anschließende Gewichtsreduktion eine durchschnittliche Lebenserwartung von 42 Jahren.
Vergleiche mit Daten aus Studien, die nicht für das Modell herangezogen wurden, und die Meinungen führender Expert*innen bestätigten die Genauigkeit des Modells.

Gegensteuern in jungen Jahren wirkt sich besonders günstig aus

Die Modellierung zeigt auch, dass ein früherer Gewichtsverlust zu mehr Lebensjahren führt als ein späterer Gewichtsverlust. Dr. Wiedemann erklärte: „Das Early-Onset-Adipositas-Modell [Modell bei frühem Adipositasbeginn] zeigt, dass eine Gewichtsreduktion einen deutlichen Einfluss auf die Lebenserwartung und das Risiko für Begleiterkrankungen (Komorbiditäten) hat, insbesondere wenn es Kinder früh abnehmen.“

Zu den Einschränkungen des Modells gehört, dass es die Ursache von Adipositas, genetische Risikofaktoren, ethnische oder geschlechtsspezifische Unterschiede nicht berücksichtigte und auch die Wechselwirkungen von Begleiterkrankungen nicht mit einbezog.

Starkes Übergewicht sollte als schwerwiegende Krankheit betrachtet werden

Dr. Wiedemann kam zu dem Schluss: „Die Auswirkungen von Adipositas bei Kindern auf die Lebenserwartung sind tiefgreifend. Es ist klar, dass Adipositas bei Kindern als lebensbedrohliche Krankheit betrachtet werden sollte. Es ist wichtig, dass die Behandlung nicht aufgeschoben wird, bis sich Typ-2-Diabetes, Bluthochdruck oder andere ‚Warnzeichen‘ zeigen. Denn eine frühzeitige Diagnose sollte und kann die Lebensqualität und -dauer verbessern.

Quellen: MedicalXpress, ECO2024