Mindestens 30.000 Kinder in jedem Jahrgang sind in Deutschland von Vernachlässigung betroffen. Dies gehe aus Zahlen der bundesweiten Kindergesundheitsunter-suchung des Robert Koch-Instituts hervor, so der Ulmer Kinder- und Jugendpsychiater Prof. Dr. Jörg Fegert. „Frühe Misshandlung und Vernachlässigung von Kindern beschränkt sich nicht auf spektakuläre Einzelfälle wie etwa "Kevin"„, erklärt der Leiter der Kinder- und Jugendpsychiatrie der Universitätsklinik Ulm. Es handele sich vielmehr und eine generelle gesellschaftliche Herausforderung.
Modellprojekt „Guter Start ins Kinderleben“
Um Lösungen zu finden, haben Baden-Württemberg, Bayern, Rheinland-Pfalz und Thüringen im November 2006 ein Modellprojekt „Guter Start ins Kinderleben“ ins Leben gerufen, das von der Kinder- und Jugendpsychiatrie wissenschaftlich begleitet wird. Es sollen Methoden aufgezeigt werden, wie Vernachlässigung verhindert werden kann. Nach Abschluss der Pilotphase sollen nun in den kommenden zwei Jahren unter anderem empirisch belegbare Risikofaktoren gesammelt werden, anhand derer etwa Jugendämter und Ärzte prüfen können, ob ein kritischer Fall vorliege.
Risikofaktoren für die Familie
Probleme könnten etwa auftreten, wenn die Mutter sehr jung, psychisch krank oder drogen- oder alkoholabhängig sei, weiß Professor Fegert. Nach einer eigenen Untersuchung der Ulmer Arbeitsgruppe erlebten 80% psychisch kranker Eltern ihre Kinder als dadurch belastet. 50% hätten auf eigene Behandlungen wegen der ungeklärten Betreuung der Kinder verzichtet. Psychisch kranke Eltern fürchten sich laut Professor Fegert fast generell vor Kontakten mit dem Jugendamt.
Viele Hilfen setzten erst an, wenn klinisch relevante Verhaltensprobleme deutlich werden, bedauert Professor Fegert. Zudem beruhten viele frühzeitigere Diagnosen nur auf dem „Gefühl“ und der Erfahrung des Mitarbeiters des Jugendamtes oder anderen Beteiligten. Eine systematische Erfassung von Risikogruppen mit standardisierten Instrumenten wie etwa in Großbritannien gebe es kaum. „Ein großes Problem in Deutschland ist, dass wir in der Praxis wissenschaftlich fundierte "Checklisten" oder Kriterienkataloge nicht mögen.“ Daher müssten diejenigen, die die Vorgaben umsetzen sollen, überzeugt werden, dass ihre Arbeit nicht schlechter werde, wenn sie eine Systematik als Hilfe zur Hand nähmen.
Zur Erkennung von Vernachlässigung ist Zusammenarbeit und Vernetzung erforderlich
Probleme bestünden vor allem bei der Vernetzung von Jugendhilfe und Gesundheitswesen, aber auch anderer Partner wie Polizei und Familiengerichte, erläuterte Fegert. „Eine Zusammenarbeit ist hier kaum vorhanden.“ Diese sei jedoch sehr wichtig, um Vernachlässigungen frühzeitig zu erkennen und ihnen entgegenzuwirken. Zudem fehle häufig Detailwissen über die vorhandenen Hilfestrukturen und Angebote im Frühbereich. So werden einige Einrichtungen wie etwa Gesundheitsämter für Probleme mit Kleinkindern als Ansprechpartner komplett vergessen.
„Hier müssen wir noch einmal richtig viel Zeit investieren, um eine gute Netzwerkstruktur aufzubauen, indem wir vorhandene Angebote und ihre Anbieter besser koordinieren und zusammenbringen“, sagt Fegert.