Dr. med. univ. (H) Anklam, 89542 Herbrechtingen
Fragen und Antworten zum Thema Kinder und Medien
1) Inzwischen nutzen schon Kinder Smartphones, Tablets und Co.? Wie wirkt sich das auf die Kinder aus?
„Man beobachte zunächst, wie es sich auf einen selber auswirkt: Man ist in Gefahr, zum Diener seines Gerätes zu werden und nicht Herr darüber zu bleiben. Im Internetzeitalter erreichen wir schnell und mit dem internetfähigen Smartphone von überall aus Informationen über die ganze Welt. Man kann sich quer durch die ganze Welt in Sekundenbruchteilen vernetzen und miteinander kommunizieren. Dies übt einen Sog aus, dem man sich nur schwer entziehen kann. Auf Kinder genauso wie auf Erwachsene, nur habe sie dem weniger entgegenzusetzen und müssen und wollen sich eigentlich erst noch einleben in die reale Welt, von der sie weggesogen zu werden drohen.
2) Gibt es gesundheitliche/psychologische Beeinträchtigungen?
Man spricht ja heute schon von der Generation „Kopf unten“. Das sagt eigentlich alles. Das youtube-video „Look up“ hat über 50Mio klicks [ https://www.youtube.com/watch?v=Z7dLU6fk9QY ]https://www.youtube.com/watch?v=Z7dLU6fk9QY, es macht deutlich, worum es dabei geht. Wir Kinder- und Jugendärzte sind von deutlichen gesundheitlichen und psychologischen Beeinträchtigungen überzeugt, sehen diese täglich in unseren Praxen. Wir warnen auch vor den Folgen, die die Kinder erleiden müssen von Eltern, denen ihr Smartphone wichtiger ist, als der Kontakt zum eigenen Kind. Hier werden große Herausforderungen auf uns zukommen. Die BLIKK-Medien-Studie versucht, hierfür zu sensibilisieren [ https://www.youtube.com/watch?v=Z7dLU6fk9QY ]http://www.drogenbeauftragte.de/presse/pressemitteilungen/2015-03/erste-ergebnisse-des-projekts-blikk-medien.html. Es wird ausserordentlich wichtig und herausfordernd sein, menschheitlich Herr über diese Entwicklung zu bleiben.
3) Wie viel Technik und Medien verkraften Kinder, und ab welchem Alter sollten sie damit in Kontakt kommen?
Im 19. Jahrhundert hat uns die Technik zunehmend die aktive, körperliche Arbeit abgenommen (Dampfmaschine usw.), im 20. Jahrhundert die aktive künstlerische Betätigung (Schallplatten, Photoapparat, Film) und im 21. Jahrhundert nimmt sie uns zunehmend das aktive Denken und vor allem Erinnern ab (PC, Internet, Smartphone, Navigationsgerät). Hierdurch schafft uns die Technik zunehmende Freiräume, die früher undenkbar waren. Diese sollten wir wieder aktiv ergreifen. Denn die Neurobiologie hat uns einen wesentlichen Satz beigebracht: „Use it or loose it.“ Jede Fähigkeit, jede Begabung, die wir nicht aktiv nutzen, werden wir teilweise verlernen. Dann wird aus Bequemlichkeit schließlich Abhängigkeit und Unfreiheit, also ein Zustand, den wir als unmenschlich erleben. Die Freiheit, die wir von etwas haben, müssen wir zu etwas nützen. Dies können wir besser, wenn wir „Aktivsein“ in der Kindheit erlernt haben. Der kluge Mensch in einem sitzenden Beruf macht Sport, evt. sogar an „Kraftmaschinen“ im Bodybuildingstudio. Dies wäre einem Menschen vor 200 Jahren völlig sinnlos vorgekommen. Die Frage in Zukunft wird sein: Wie können und müssen wir unsere „Denkmuskeln“ in Freiheit trainieren, wenn sie zu erschlaffen drohen weil ihnen alles abgenommen wird.
Kinder im Vorschulalter müssen zunächst lernen, mit ihrem Körper, ihren Gefühlen, der Welt und anderen Menschen in immer freierer Weise zurechtzukommen. Bildschirmmedien sind hier eigentlich ausschließlich hinderlich: Das Auge, dass normalerweise in feinen Bewegungen die wirkliche dreidimensionale Welt abtastet und ergreift immer begleitet durch eigene Ortswechsel bis es sie erfasst hat, „glotzt“ regungslos auf den Fernseher, dessen Bilderwechsel und Kameraschwenks einem diese Eigenbewegung völlig abnehmen. Man schaut auf einen englischsprechenden Mund und hört aus einer anderen Richtung eine auf deutsch synchonisierte Sprache aus den Lautsprechern. Bildschirmmedien geben uns also einen Wahrnehmungsbrei, der sich auf Vorschulkinder immer ungünstig auswirkt, unabhängig vom Inhalt. Fernsehen ist so etwas wie ein systematischer sensorischer Desintegrationsapparat. Denn während des Fernsehens ist man vom eigenen Körper empfindungsmäßig und aktivitätsmäßig ganz abgekoppelt. Ein Vorschulkind, welches viel fernsieht, wird schon im Kindergarten eher ein problematisches Verhalten zeigen und später in der Schule mit größerer Wahrscheinlichkeit Lernprobleme bekommen. Wir Kinder- und Jugendärzte sehen uns dann in der Regel mit der hilflosen Forderung nach einem Ergotherapierezept konfrontiert. Aber was ist schon eine Stunde Ergotherapie in der Woche (bei der dann vielleicht mit Methoden der sensorischen Integration gearbeitet wird) gegen mehrere Stunden fernsehen täglich (bei dem mit sensorischer Desintegration gearbeitet wird).
Beim fernsehen erlischt auch die innere Aktivität: Während beim Lauschen auf eine vorgelesene oder erzählte Geschichte im Inneren eigene Bilder entstehen, die individuell zu einem gehören, bekommt man beim fernsehen diese Bilder von der Traumfabrik Hollywood in die eigene Seele transplantiert. Der Phantasiefähigkeit nutzt dies nicht. Mit dieser verbessern wir aber später die Welt, indem wir Dinge erschaffen, die noch nicht da sind. Kinder- und Jugendärzte plädieren also zusammen mit dem Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft im Vorschulalter für das Vorlesen ([ http://www.stiftunglesen.de/download.php?type=doc... ]http://www.stiftunglesen.de/download.php?type=documentpdf&id=951) und nicht fürs Sandmännchen abends.
Im Schulalter sind die Dinge anders. Hier sollte den Kindern aber geholfen werden ihr Gleichgewicht mit den Medien zu finden, sich von ihnen nicht stressen zu lassen und das wirkliche Leben nicht zu verpassen. Unbedingt empfehlen wir keinen eigenen Fernseher im Kinderzimmer und auch noch lange einen gemeinsamen Familiencomputer im Wohnzimmer mit gesonderten Zugängen (evt. mit Zeitbegrenzung und Jugendschutzvorkehrungen).
4) Wann können digitale Medien für Kinder förderlich sein?
Dann, wenn sie dazu in der Lage sind, diese selbstbestimmt nutzen zu können, ohne sich ihrem Sog hingeben zu müssen. Also kurz: Wenn sie Herr über ihre Maschine bleiben und nicht ihr Diener werden. Dazu benötigen sie ein Grundverständnis von sich und der Welt. Wann und unter welchen Voraussetzungen dies der Fall ist, ist von Kind zu Kind und von Situation zu Situation verschieden. Im Alltag beobachtet man häufig leider ein eher unsouveränes Verhalten der Digital Natives ihren Maschinchen gegenüber.
5) Wie sieht es an Schulen aus. Sollten sich mehr Schulen für digitale Medien öffnen?
Dies halten Schülerinnen und Schüler wie auch Eltern und Kinder- und Jugendärzte für eine Nebenbaustelle. Nach der bahnbrechenden Studie von John Hattie (ISBN 9783834013002) ist klar, was man vorher gefühlt schon immer ahnte: Das wichtigste in und an der Schule sind neben den Schülerinnen und Schülern gute, begeisterungsfähige Lehrerinnen und Lehrer. Sie sind die authentischen „Medien", durch die die Weltwirklichkeit in die Klassenzimmer kommt. Diese Tatsache ist unhintergehbar. Denn vor Erziehung kommt immer Beziehung. Fragt man Unterstufen- und Mittelstufenschülerinnen und -schüler nach ihren Lieblings- und Hassfächern so korrelieren diese stark mit der erlebten Persönlichkeit des Lehrers. Daher sollten sich alle gesellschaftlichen Anstrengungen darauf konzentrieren, begeisterungsfähigen Lehrern den Raum und die Fähigkeiten zu geben, die sie brauchen für einen guten, selbstgestalteten Unterricht. Ob sie in diesem Unterricht hier und da Medien einsetzen wollen, sollten sie selbstkritisch selber entscheiden aus einem professionellen Methodenbewusstsein heraus so, wie es zu ihnen passt. Dabei kann Medieneinsatz einen lehrervorbereiteten Unterricht so wenig ersetzen, wie ein Fernseher ein Babysitter sein kann.
6) Müssen schon Kinder an die digitale Welt herangebracht werden, um später auf einem sich zunehmend digitalisierten Arbeitsmarkt zu behaupten?
Nein, müssen sie nicht. Ich nenne als berufsbezogenes Beispiel das Recherchieren von Informationen: Das Internet ist wie eine riesige Bibliothek, wie ein sozialisiertes Elephantenweltgedächtnis, dessen Bilder, Texte und Filme ich nutzen und mitgestalten kann. Doch welche Kompetenzen braucht man, um ein solche Riesenbibliothek sinnvoll nutzen zu können und in ihr Herr zu bleiben? Wer lesen kann, ist im Vorteil. Auch wer lesen will, also eine Frage, ein Interesse hat. Eine Bibliothek kann ich nur dann sinnvoll nutzen, wenn ich eine kleine oder größere Forschungsfrage habe. Sonst dient sie mir nur zur Zerstreuung. Das erfordert, dass ich selbstständig denken kann und etwas kritisch zu hinterfragen vermag. In einer großen Bibliothek finde ich aber oft nicht gleich das, was ich suche. Vor allem bei größeren Fragen muss ich ausdauernd sein und fleissig und ich muss mich auf meine Sache konzentrieren können und mögliche Ablenkungen diszipliniert ausblenden. Ich muss wissen, wo die Bücher stehen, die ich suche. Ich brauche also ein grundlegendes Verständnis von meinem Sachgebiet und dessen Zusammenhänge, also Allgemeinbildung. Ich fasse zusammen: Um das Internet sinnvoll für eine Recherche nutzen zu können, helfen mir folgende Kompetenzen:
Technische Kompetenzen: Medien richtig handhaben können
Urteilsfähigkeit und Allgemeinbildung
selbstständiges Denken
Eigene Fragen entwickeln können (Phantasiefähigkeit)
Interesse für etwas entfalten können
Konzentrationsfähigkeit
Ausdauer
Selbstdisziplin
Hat man diese Kompetenzen nicht, steht man nur staunend und orientierungslos vor dem überwältigenden Angebot und verliert sich darin. Es wird deutlich: Auch Medienkompetenz setzt Fähigkeiten voraus, die ein Mensch idealerweise gut ausgebildet haben sollte, wenn er den Anforderungen des beruflichen Lebens gewachsen sein will. Medienkompetenz ist spezialisierte Lebenskompetenz. Die interessante Frage ist nun: Wie, wo und wann kann sich der heranwachsende Mensch diese Kompetenzen erwerben? Viele Menschen sagen, dass man Medienkompetenz natürlich nur im möglichst frühen Umgang mit Medien erwerben könne. Dies erscheint zwar auf den ersten Blick einleuchtend aber es trifft im engeren Sinne nicht mal auf die technische Kompetenz zu. Denn hier wird sich die Welt unvorhersehbar geändert haben, bis unsere Kinder in das Berufsleben eintreten und die Erfahrung zeigt, dass diese Kompetenz am allerleichtesten aktuell gelernt wird. Wie ist es mit den anderen Kompetenzen? Bildschirmmedien sind zum Beispiel denkbar ungeeignet, um Phantasiefähigkeit, Interesse, Konzentrationsfähigkeit, Ausdauer und Selbstdisziplin zu üben: Um diese seelischen Stärken zu erwerben, eignen sich besser konkrete Erlebnisse und Herausforderungen realer Lebensfelder mit ihren Anforderungen. Hierzu gehören handwerkliche, künstlerische und soziale Übungsfelder im wirklichen Leben. Oder das abendliche Vorlesen und später selber lesen anstatt Filme zu schauen. Um Kinder fit zu machen für das Leben und auch für einen digitalisierten, sollten sie dosiert und zeitgerecht dann an die Medien gezielt herangeführt werden, wenn sie ihnen gegenüber bestehen und nicht vorher.
Klar ist auch, dass eine robuste seelisch-körperliche Gesundheit immer eine Pfund sein wird, welches auch auf dem Arbeitsmarkt wichtig ist. Der Bildschirmmedienkonsum beeinträchtigt diese Gesundheit dosisabhängig alleine schon wegen des damit einhergehenden Aktivitäts- und Bewegungsmangels. Wir wissen, dass Bewegungsmangel heute eines der größten Lebensrisiken gesundheitlicher Art ist, welches gleichzeitig im allgemeinen Bewusstsein am meisten unterschätzt wird ([ http://www.kinderumweltgesundheit.de/index2/pdf/g... ]http://www.kinderumweltgesundheit.de/index2/pdf/gbe/6224_1.pdf). Kinder- und Jugendärzte glauben, dass die Rolle des Umgangs mit Medien im Kindesalter erheblich überschätzt wird, wenn es darum geht eine tüchtige, lebens- und medienkompetente Generation groß zu ziehen. In unseren Praxen sehen wir eher das Gegenteil: Je mehr und je früherer Medienkonsum im Kindes- und Jugendalter, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass Kinder mit dem Leben und dann auch mit Medien nicht gut zurechtkommen. Ich vermute: Wer früh, ausschließlich und ständig googelt, um zu seinen Informationen zu kommen, wird später ein schlechterer Rechercheur.
7) Sie sprechen davon, dass Ärzte psychische Erkrankungen bei Kindern durch den Gebrauch digitaler Medien beobachten. Welche meinen Sie zum Beispiel?
Es entstehen nicht gleich psychische Erkrankungen sondern eine gewisse seelische Labilität die mit mangelndem Selbstbewusstsein zu tun hat. Dies hat zunächst damit zu tun, dass uns die direkte Kooperation mit Menschen, das sich einfühlen lernen, also die ganze Palette sozialer Interaktion in Freundschaft, Liebe aber auch direkter Auseinandersetzung gut tut. Kinder, die das Glück haben, hier reich beschenkt worden zu sein, sind gesundheitlich im Vorteil und seelisch resilienter also langfristig widerstandskräftiger. Wie dünn sind doch Erfahrungen mit digitalen Medien gegenüber diesen Primärerfahrungen. Mein Computer kann zwar mich zum lachen bringen, aber das Gegenteil funktioniert nicht: Ich kann ihn nicht zum lachen bringen. Damit erlebe ich mich vor allem nur als Nehmenden und nicht als Gebenden. Aber geben war schon immer seeliger als nehmen. Kinder wie Erwachsene macht es glücklich und stark, wenn sie etwas zu geben haben wofür andere Menschen sich bedanken und worüber sie sich freuen.
Es wird in Zukunft das Krankheitsbild der Internetabhängigkeit ganz offiziell mit einer ICD-Ziffer oder einem DSM-Code versehen geben: Wenn der Bildschirmkonsum so umfänglich und vor allem so zwingend ist für den Patienten, dass er im Alltag gravierend beeinträchtigt ist und sich selber auf zentralen Lebensfeldern vernachlässigt, um sich der Sucht hinzugeben. Wenn sie in Zeitschriften schauen, in denen Computerspiele rezensiert werden, so finden Sie manchmal unten einen Kasten mit den Rubriken „Spaß, Action, Strategisches Denken etc. und häufig zuletzt: Suchtfaktor“; alle Rubriken bewertet dann der Rezensent mit z.B. 1-5 Sternen. Z.B. Mehrspieler-Online-Rollenspieler (z.B. mit World of Warcraft) können tatsächlich in psychiatrisch relevante Suchtmuster hereinkommen. Sucht kommt ja auch von Suche. Was machen machen Rollenspieler? Sie entwickeln in einer Phase ihres Lebens (zumeist im Jugendalter) von Level zu Level einen virtuellen Helden, ihren Avatar. Während sie ihn mit ihrer eigenen Lebenszeit und manchmal auch mit ihrem Geld füttern, wird dieser Held in seiner virtuellen Welt immer mächtiger, schöner und größer. So mancher stolze Avatar-Besitzer stellt dann irgendwann fest, dass seine eigene innere Heldenpersönlichkeit immer mehr verkümmert, weil sie nicht mehr gepflegt und an der widerständigen Realität des wirklichen Leben erprobt wird, während er seine Zeit vor dem Bildschirm verbringt und auch sonst nur noch an die virtuelle Welt seines Avatars denkt. Wenn dies für einen Menschen irgendwann zu einem Zielkonflikt führt („Ich oder mein Avatar“), kann es sein, er dann den Entschluss fasst, seinen lieb gewonnenen, stolzen Avatar sterben zu lassen. Einen würdigen virtuellen Heldenfriedhof und eine Wall of Fame für Avatare gibt es hier [ http://www.herolymp.de/ ]www.herolymp.de. (Interessanterweise auf Initiative des Frankfurter Drogenreferats). Dort kann man seinem Avatar einen würdigen Nachruf verfassen.
Wenn eine ganze Generation „Kopf unten“ genannt wird, so sind hier auch wachsende Neigungen zu Depressionen darunter zu verstehen. Ferner beobachtet man eine gewisse Unverbindlichkeit bei Verabredungen („ich rufe dann nochmal an“), was in der Summe zu Nervosität führt.
In den sozialen Netzen geht es
Alles in allem glaube ich, dass die Kinder und Jugendlichen ein Bewusstsein für diese Dinge entwickeln müssen und vorgelebt bekommen sollten, dass man sich in ein Gleichgewicht bringen muss.
8) Was raten Sie Eltern, wie sie den Gebrauch für/mit ihren Kindern regeln könnten und ab welchem Alter würden Sie digitale Medien überhaupt empfehlen?
Im Vorschulalter würde ich nach Möglichkeit ganz abraten von Bildschirmmedien. Das ist jetzt meine persönliche Meinung. Ich glaube, alles andere ist ein Kompromiss. Diese kann man freilich eingehen im leben; aber man sollte das dann nicht unter pädagogisch wertvoller „Förderung“ verbuchen. Kinder lernen sich und die Welt besser im realen Leben kennen. Grundsätzlich sehe ich keinen Nachteil darin, wenn Kinder sich erst spät für elektronische Medien interessieren. In der Regel kommt das Interesse immer früh genug und muss nicht künstlich geweckt werden.
Es geht dann primär um die zeitliche Dosis, also die Lebenszeit, die man hätte eigenkreativer verbringen können. Am Brüsseler Flughafen gibt es eine geniale Handyladestation: Mit Tretantrieb und Dynamo. Man könnte als Eltern z.B. Vereinbarungen treffen, dass Kinder sich Medienzeiten verdienen mit Aktivität. Damit meine ich nicht nur körperliche Aktivität sondern auch künstlerische Aktivität oder anderes. Es gibt z.B. die Möglichkeit, auf einem Familien-PC einzelne passwortgeschützte Benutzerzugänge einzurichten und mit Jugendschutzvorkehrungen einzurichten, die z.B. auch die Online- und Offlinezeit automatisch begrenzen und bestimmte Inhalte (wie Pornographie etc.) nicht gestatten. Hilfreich ist es in jedem Fall, wenn die elektronischen Medien sich in gemeinsam genutzten Familienräumen befinden und nicht im „einsamen“ Kinderzimmer. Denn der Fernseher im Kinderzimmer, der unbegrenzte Internetzugang etc. erhöht die Dosis. Aber solche Regelungen sind doch ganz individuell, wie auch die Zeiten, die man mit seinen Kindern aushandelt.
Urteilsfähige Jugendliche sollte man ermutigen, sich sehr aktiv mit dem Medienthema auseinanderzusetzen und auch die Hintergründe zumindest in Teilen immer besser zu verstehen: Z.B. selber einen Youtube-film zu drehen oder einen Wikipediaartikel zu editieren. Wichtig ist es aber, ihnen klar zu machen, dass alles, was sie im Internet tun, nicht wirklich „löschbar“ ist und im Prinzip nachvollziehbar bleiben könnte. Sie sollten also dazu stehen können. Daher äußern sich die meisten Menschen im Internet mit einem Pseudonym und glauben, in diesem Schutz unangreifbar zu sein. Ich halte es für wichtig, dass Bewusstsein dafür zu schärfen, dass es großartig und schrecklich zugleich sein kann, dass das weltweite Elephantengehirn Internet eben nichts so schnell vergisst. Je besser dieses Bewusstsein vorhanden ist, desto weniger ausgeprägt neigt man zum Cyberleichtsinn. Wenn wir heute sagen: "Reden ist Silber, Schweigen ist Gold“, dann bekommt das eine ganz neue Dimension. Denn etwas einmal im Internet Gesagtes kann ich nicht mehr zurückholen. Aber etwas Verschwiegenes kann ich noch sagen.
Till Reckert
(Kinder- und Jugendarzt, Pressesprecher Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte Baden- Würrtemberg)